Leipzig spinnt und boomt

Leipzig erhielt in seiner Geschichte viele Etiketten: Messestadt, denn mit 850-jähriger Tradition zählt sie zu den ältesten Messeplätzen der Welt. Musikstadt, denn hier wirkten Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert und Clara Schumann. Buchstadt, denn sie war bis ins frühe 20. Jahrhundert das internationales Logistik-Zentrum des Kommissionsbuchhandels. Heldenstadt, denn hier begann die Friedliche Revolution 1989 gegen das DDR-Regime. Seit einigen Jahren hört man über Leipzig, sie sei Deutschlands Boomtown Nummer 1.

Vom Geist einer Stadt, die sich immer neu erfindet

In Leipzig wachsen die Einwohnerzahlen am schnellsten. Doch das ist eher die Folge einer Tatsache, die Leipzig und seine Bürgerschaft seit jeher auszeichnete: Man erfindet sich immer wieder neu. Es ist diese eigenwillige Melange aus Geschäftigkeit, Bürgersinn, Kultiviertheit, Hartnäckigkeit und Ideenreichtum, die die Leipziger zu einer enormen Kreativität antreibt und erfolgreich macht.

In dieser Stadt entstand über Jahrhunderte ständig etwas Neues. Und das tut es immer noch. Leipzig ist aus der grauen Tristesse des Sozialismus wieder auferstanden. Und deshalb musste in den letzten 30 Jahren auch viel gebaut werden, denn Ideen, Geschäft und Kultur brauchten neuen Raum, um sich weiterzuentwickeln. Stillstand ist nichts für die Leipziger. Wer davon einen Eindruck gewinnen will, der kann natürlich durch die Shopping-Passagen der Innenstadt flanieren. Oder sich in feinen Restaurants und Cafés verwöhnen lassen. Oder am Nachmittag ins Museum der Bildenden Künste gehen. Oder am Abend klassische Musik im Gewandhaus genießen.

Die Liste der Erlebnis- und Kulturempfehlungen ließe sich reichlich verlängern. Doch das Zentrum Leipzigs ist wohl das, was man gemeinhin als „etabliert“ bezeichnen würde. Es ist fast fertig ausgebaut, es hat klare Strukturen, es ist bürgerlich saturiert, verkörpert Erfolg und Wohlstand. Klar, das lässt den Leipziger Bürger stolz sein und macht auch Besuchern aus aller Welt gute Laune, ohne Zweifel.

Ein Blick in die Seele der Stadt: Der Leipziger Westen

Wer aber sehen will, wie diese Stadt aktuell tickt, wie gerade etwas Neues entsteht, genau in diesem Moment, wo man diese Zeilen liest, der sollte das Stadtzentrum verlassen. Am besten steigt man dazu in die S-Bahn-Linie 1 am Hauptbahnhof und fährt in nur einer viertel Stunde bis zum Bahnhof des Leipziger Ortsteils Plagwitz. Auf den ersten Blick zeigt sich der Kontrast zum Stadtzentrum.

Plagwitz hat seinen Ursprung in der Industrialisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Gründerzeit und frühe Moderne prägen den Stil des Viertels. Die Schlote der Fabriken sind inzwischen erkaltet, der Ruß ist verflogen, das Rattern der vielen Spinnmaschinen und Webstühle in den Textilfabriken verstummt. Ein neuer Geist hat von den alten Industriehallen Besitz ergriffen: nicht die Produktion, sondern die Kreativität gibt jetzt hier den Ton an – und das in allen Spielformen. Und doch ist auch sie auf ihre Weise wieder produktiv, sie schafft Neues, gibt Arbeit, entwickelt das städtische Leben weiter.

Agil, visionär, kreativ

Kunst und Business, Tradition und Innovation, Kultur und Kommerz schließen sich hier nicht aus, sondern leben in Symbiose. Gleich in der Nähe, westlich vom Bahnhof Plagwitz an der Spinnereistraße 7, befindet sich die ehemalige Leipziger Baumwollspinnerei – ein „Kunstzentrum in industrieller Umgebung“, wie ihre Macher sie jetzt nennen. 1907 erbaut war sie einst die größte Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas.

Diese faszinierende Fabrikstadt mit Arbeiterwohnungen, Gartensiedlung und eigenem Kindergarten ist heute noch komplett erhalten. Seit dem Ende der Baumwollgarnproduktion 1992 ist der Ort einem ständigen Wandel unterzogen: „From Cotton to Culture“, so lautet das Motto. Vor allem Künstler, von denen mittlerweile über 100 ihre Ateliers in der Spinnerei haben, waren die Pioniere der Wiederbelebung. Darunter internationale Größen wie Neo Rauch, die noch heute hier arbeiten. Neben den Künstlern konnte man über die Jahre Musiker, Tänzer, Handwerker, Architekten, Händler, Drucker und Designer und viele andere Gewerke für die räumlichen Möglichkeiten der Spinnerei begeistern, sich hier niederzulassen.